Ich habe mich lange dagegen gesträubt, in den Chor der ChatGPT-Erklärerinnen und -Erklärer einzustimmen. Aber jetzt ist der Moment gekommen, in dem ich schlicht keine Wahl mehr habe, da sich selbst der Chefredaktor von inside-it.ch einen Newsletter von diesem Tool schreiben lässt (zumindest testweise, einmalig und deklariert).

ChatGPT hat kürzlich mit der Version 4.0 und mit der Integration in Bing.com (für angemeldete Microsoft-User auf dem Browser Edge) einen grossen Sprung gemacht. Es ist nun auch für Nicht-Nerds einfach nutzbar und besser referenziert. Eine Auseinandersetzung mit diesem Tool ergibt jetzt wirklich Sinn, da sich konkrete Anwendungen aus dem Nebel des Hypes erheben.

Ich spreche im Folgenden zwar immer von ChatGPT, das ich der Einfachheit halber als Gattungsbegriff behandle. Ich bin mir bewusst, dass es noch andere ähnliche Produkte gibt, die jedoch bezüglich Reife und Reichweite noch nicht so weit sind.

Noch bleibt der Normalbürger verschont

Wie immer, wenn eine neue Technologie aufkommt, werden sowohl Chancen als auch Gefahren überbewertet. Medien und Experten punkten ja vor allem dann, wenn sie mit Superlativen aufwarten können. Fragen wir daher einen neutralen Experten. In einer von mir initiierten Selbstdeklaration beschreibt sich das Tool wie folgt: “ChatGPT ist eine Art Zauberstab für Texte. Du sagst ihm, was du schreiben willst, und er macht es für dich. Klingt super, oder?” Zusammengefasst: ChatGPT macht nichts anderes als schreiben.

Es ist somit ein Internet-Phänomen, das so weit von der echten Welt entfernt ist wie die Erde vom Mond. In der echten Welt müssen wir nämlich Wärmepumpen installieren, Kühe melken, Haare schneiden, Fondue kochen, Kranke pflegen, Auto fahren oder Fangen spielen. Das sind alles Dinge, die ChatGPT nicht kann und auch nicht versteht. Wir (als Leserinnen und Leser von inside-it.ch) sind zwar möglicherweise begeistert von einer Technologie, die uns erlaubt, mit einem Computer zu plaudern, aber wir sind damit vermutlich ziemlich allein. Viele Menschen werden die Entwicklung der Technologie wohl erst nach und nach, häppchenweise in transformierter und verdünnter Form mitbekommen.

Aber ChatGPT wird auch andere Bereiche der Technik voranbringen, wie zum Beispiel Sensorik, Robotik und Gentechnik. Diese Disziplinen werden wiederum von Tools wie ChatGPT & Co. enorm profitieren und viel effizienter werden: So ist der ChatGPT-Entwickler OpenAI gegenwärtig daran, ein neues Text-zu-3D-Modell zu lancieren, das Shap-E heisst. Damit kann man zum Beispiel schreiben: “Ich möchte eine Tasse mit einem Elefanten drauf” und schon hat man eine Tasse mit einem Elefanten drauf. Zumindest in der Theorie. In der Praxis sieht das Ganze noch etwas pixelig und grobschlächtig aus.

Wer ist wirklich betroffen?

Wer allerdings beruflich mit der Produktion oder Verarbeitung von Texten sein Geld verdient (zum Beispiel als Journalist oder Autor), der muss sich warm anziehen und sich heute schon überlegen, was dies für seine berufliche Entwicklung bedeutet. In besonderem Mass sind wohl Auftragstexter aus Werbung, PR und Corporate Publishing betroffen. Dabei geht es nicht unbedingt darum, Produkte vollumfänglich von ChatGPT schreiben zu lassen, aber für das Brainstormen, für das Recherchieren, für das Zusammenfassen von Quellen oder für redaktionelle Arbeiten liefert ChatGPT sehr viel schneller und umfassender gute Resultate.

Ein Must für Softwareentwickler

Was hingegen revolutioniert wird – und zwar per sofort – ist die Softwareentwicklung. Denn Software ist ja letztlich auch nur Text (wenn auch ein spezieller). Da ich nicht Allgemeinplätze von mir geben möchte, habe ich bei einem der Start-ups nachgefragt, bei denen ich engagiert bin, wie ChatGPT schon heute ganz konkret eingesetzt wird. Was ich gehört habe, lässt sich auf den Softwarebereich generell übertragen:

Bei der Code-Generierung werden (abhängig von der Aufgabe) gegen 20% Prozent der Entwicklungszeit eingespart, weil sich Bibliotheken durchforsten und Teilaufgaben auslagern lassen, wobei die Resultate in Sekundenschnelle vorliegen. Und dieser Wert wird sich mit zunehmender Routine noch steigern lassen. Allerdings heisst es hier aufpassen, denn man muss sich bewusst sein, dass jeder Prompt (Frage) und auch die zugehörige Antwort wohl irgendwo gespeichert werden, um das Gesamtsystem weiter lernen zu lassen. Gut, OpenAI erklärt zwar, dies sei nicht der Fall, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Man möchte es ja der Konkurrenz nicht allzu leicht machen. Statt ganzer Code-Sequenzen dürfen daher nur einzelne Snippets ins System eingespeist werden. Immerhin ist die Gefahr, dass ChatGPT einfach drauflos halluziniert, wie es bei “normalen” Texten passieren kann, hier eher gering, da es bei Code um eine homogene, stark normierte und auf einen spezifischen Bereich konzentrierte Sprache geht.

Was bedeutet dies für die Menschen, welche in der Entwicklung tätig sind? Ganz klar, bei der Einstellung von neuen Mitarbeitenden muss stark darauf geachtet werden, dass sie sich gut mit ChatGPT auskennen, während das bestehende Team möglichst rasch dafür qualifiziert werden muss. Es gibt zwar die neue Funktion des AI Prompt Engineers, allerdings ist dieser nicht für die Unterstützung der täglichen Arbeit von Programmierern gedacht.

Bei virtuellen, über den Globus verstreuten Teams, wie sie heute in der Softwareentwicklung verbreitet sind, stellt ChatGPT eine zusätzliche Herausforderung dar. Die Gefahr, plötzlich festzustellen, dass man beim Einstellungsprozess einem Betrüger oder einer Schaumschlägerin auf den Leim gegangen ist, steigt beträchtlich.

Und wie geht der Kolumnist damit um?

Nach dem Gesagten wäre es seltsam, wenn ChatGPT bei der Erstellung dieser Kolumne keine Rolle gespielt hätte. Selbstverständlich lasse auch ich mich bei der Textproduktion von diesem System unterstützen. Wie ich das tue, bleibt für heute mein Geheimnis. Kein Geheimnis ist, dass ich die konkreten Informationen zum Einsatz von ChatGPT bei der Programmierung bei Clemens Schuster und Ivan Srdić von Politanalytics AG eingeholt habe (denen dafür herzlich gedankt sei).

Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch. Foto von Sanket Mishra auf Unsplash

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