In der internationalen Politik und in der Tech-Branche: Warum wir uns nicht von allen die Welt erklären lassen sollten.

Es ist atemberaubend, wie innert Wochenfrist in der Schweiz acht Millionen Epidemiologen zu Osteuropa-Experten mutiert sind. Dies erlaubt mir, nahtlos an den Blogpost vom letzten Monat anzuschliessen. Und man verstehe mich richtig: Dass Menschen angesichts eines Krieges in Europa betroffen reagieren, Mitgefühl, Solidarität mit Geflüchteten und Empörung gegenüber einer brutalen Invasion äussern, ist das normalste der Welt, eine natürliche und gesunde Reaktion.

Es geht mir hier um die zahlreichen Mitmenschen, die sich zu Experten zur Lage aufschwingen, oder die – um für einmal SRF-Slang zu verwenden – für uns die Situation „einordnen“. Sie sagen uns (auch ungefragt), was Putin, Biden, Selenskyj und Keller-Sutter falsch gemacht haben, falsch machen und falsch machen werden. Sie alle glauben, einen besonderen Durchblick zu haben und übernehmen freiwillig und ehrenamtlich die Mission, uns auf allen Kanälen, in der Kaffeepause, am Stammtisch oder in den sozialen Medien die Welt zu erklären.

Selbstverständlich sind sie für diese Aufgabe bestens vorbereitet. Sie haben einen speziellen, besonders authentischen Satelliten-Sender entdeckt, sind Mitglied eines absolut zuverlässigen Insiderkanals auf Telegram oder kennen sich aus, weil die Tante der Putzfrau der Nachbarin vor Jahren einen Freund aus der Ukraine hatte. Angesichts der riesigen Nachfrage nach Content für die vielen Sonderseiten und Sondersendungen finden diese Leute auch Eingang in die traditionellen Massenmedien.

Die grassierende Expertokratie kennen wir natürlich nicht nur aus weltpolitischen Zusammenhängen, wir finden das Phänomen in kleinerem Massstab auch in unserer Branche immer wieder, wenn ein Thema beim Hype-Cycle von Gartner trendet. Flugs finden sich selbsternannte Kenner, welche ihre „Expertise“ wohlfeil anbieten. Dabei geht es dann weniger um Geltungssucht als vielmehr um den Versuch, sich ein Stück vom (kommerziellen) Kuchen abzuschneiden.

Beispiel „Personal Branding“: Wer wirklich ein Experte für Personal Branding ist, hat es nicht nötig, sich als Berater dafür zu verdingen. Sieht man sich das Angebot in diesem Bereich an, findet man (jenseits von ein paar wenigen internationalen Superstars) hierzulande in den allermeisten Fällen Einzelmasken, die mehr oder weniger freiwillig eine Anstellung in einem grösseren Unternehmen verlassen haben. Natürlich, auch aus dem Scheitern kann man lernen. Aber ob das allein einen zum Experten qualifiziert, wage ich doch zu bezweifeln.

Das gleiche Setting gilt bei „New Work“: Grundsätzlich ein spannendes Thema, aber die zugehörigen Expertenszene in der Schweiz besteht vorwiegend aus Personen, welche primär aus persönlicher Betroffenheit in das Thema eingestiegen sind und New Work als Ersatzreligion statt als Organisationsprinzip betrachten.

Damit sei die Frage gestellt: Woran erkenne ich den wahren Experten? Oder umgekehrt formuliert: Woran erkenne ich, ob jemand nur ein „Pseudo-Experte“ ist. Ich sehe da fünf Punkte:

  • Der Pseudo-Experte stützt sich in der Regel auf sehr wenige Quellen, auch wenn diese sehr umfangreich und mächtig sein können.
  • Er ersetzt den akademischen oder Erfahrungshintergrund mit persönlicher Betroffenheit und anekdotischer Evidenz.
  • Die Pseudo-Expertin gelangt sehr rasch von der Ebene der Fakten auf diejenige der Meinungen bzw. ihrer eigenen Meinung.
  • Ihr Standpunkt und ihr Fazit sind immer von Anfang an klar. In der Weltpolitik ist es eine ideologische Position, im Industrieumfeld eine kommerzielle Logik (bis hin zum simplen Verkauf eigener Produkte).
  • Das entscheidende Erkennungsmerkmal ist allerdings die Tatsache, dass Pseudo-Experten auf alles immer eine Antwort haben. Ihnen fehlt die sokratische Weisheit und so unterliegen sie gnadenlos dem Dunning-Kruger-Effekt.

Vielleicht stellen Sie sich zum Schluss die Frage, woher ich das alles so genau weiss. Lassen Sie es sich gesagt sein, ich bin Experte für Expertentum.

Dieser Beitrag erschien in weitgehend identischer Form in meiner Kolumne “Von Hensch zu Mensch” auf inside-it.ch und inside-channels.ch. Photo by Rita Morais on Unsplash

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